Bookorsair hat geschrieben:dass und wie diese Diskussion über Grassens Gedicht dermassen aus dem Ruder gelaufen ist
Es gab ja keine Zielvorgabe, wohin gerudert werden soll. Insofern darf und soll in einem Thread jeder schreiben, was ihm zum Thema oder zur Person Grass einfällt.
Mir ging es beispielsweise primär nicht um die inhaltliche Debatte, sondern darum, dass es in Deutschland nicht möglich ist, Kritik an Israel zu üben, ohne Gefahr zu laufen, mit einer oder mehrerer der folgenden Konsequenzen rechnen zu müssen:
a) in die rechte Ecke gestellt zu werden,
b) leichtfertig als Antisemit bezeichnet werden,
c) ggf. ein Einreiseverbot zu erhalten.
In der dt. Öffentlichkeit/ Politik ist das längst bekannt. Gleichwohl wird gebetsmühlenartig behauptet, es würde nicht stimmen, denn man dürfe als Deutscher sehr wohl Kritik an Israel äußern. Politiker, um die Brisanz des Themas für ihre eigene Karriere bewußt, halten sich mit kritischen Äußerungen (z.B. Siedlungspolitik) extrem zurück. Aus einem aktuellen Interview der SZ mit Micha Brumlik, Ex-Direktor des Fritz-Bauer-Instituts:
"SZ: Zurück zum Thema Israelkritik: Darf ein Deutscher überhaupt Kritik an Israel äußern?
Brumlik: Das glaube ich sehr wohl. Vorbildlich war beispielsweise, wie der deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière seinen Amtskollegen Ehud Barak eindringlich auf die Gefahren eines Präventivkriegs hingewiesen und gewarnt hat. Ich vermisse, dass sich deutsche Politiker - aber auch andere europäische Regierungen - gegen die unverantwortliche Siedlungspolitik im Westjordanland wenden.
SZ: Manche fürchten wohl, sich in die Nesseln zu setzen."
Quelle:
http://www.sueddeutsche.de/kultur/micha ... .1328656-3
Eine weiteres Argumentationsmuster lautet neuerdings: Grass sei kein Antisemit, bediene sich allerdings antisemitischer Deutungsmuster:
Siehe den o.a. SZ-Artikel sowie insbesondere:
http://www.zeit.de/2012/16/P-Zeitgeist-16
Fazit:
Ohne den Vorwurf des Antisemitismus in irgendeiner Form zu erheben, scheint keine Auseinandersetzung mit dem Grass Gedicht möglich zu sein.
Um die inhaltlich diskussionswürdige Frage, ob Israel einen konventionellen Präventivschlag gegen die iranischen Nuklearanlagen führen soll, zu thematisieren, hätte Grass einen ausgewogenen Artikel, der der Lage im Nahen Osten halbwegs gerecht wird, schreiben sollen, anstelle eines einseitig-verzerrtes Pseudo-Gedicht mit viel Theatralik ("mit letzter Tinte").
Bookorsair hat geschrieben:Diese rechte Sache wird aber durch den allgemeinen politisch/historischen Kontext und durch die Biographie des Autors beschädigt - so ist es eben.
Letzteres stimmt und wurde im Thread bereits angesprochen.
Bei Ersterem bin ich überhaupt nicht Ihrer Meinung:
Ein Deutscher von damals sollte sich m.E. überhaupt nicht mehr kritisch zu Israel äußern. Deutsche von heute sollten die Vergangenheit nicht als Erblast mit sich tragen und dadurch entweder an Israel besonders hohe moralische Ansprüche stellen oder aber überhaupt keinen kritischen Diskurs mehr führen. Dies bleibt allerdings Zukunftsmusik, solange man mit o.a. Konsequenzen rechnen muss.